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Digitale Medien im Alltag: Chancen nutzen, Suchtgefahren vermeiden

Bildschirme sind allgegenwärtig. Vernetzte Technologien prägen unsere Arbeit und Freizeit. Das Smartphone dient uns als multimediales Allroundgerät. Als Medienexpertin beobachte ich seit über zwanzig Jahren die spannenden digitalen Entwicklungen und die Auswirkungen auf jeden Einzelnen und auf unsere Gesellschaft. In diesem Artikel beleuchte ich die Chancen und Risiken der digitalen Welt und stelle die Folgen exzessiver bis krankhafter Mediennutzung dar.

Die Chancen der digitalen Medien

Die Digitalisierung hat unser Leben in vielen Bereichen vereinfacht und bereichert. Das Internet bietet einen nahezu unbegrenzten Zugang zu Wissen und Unterhaltung. Lernen wird flexibler und individueller. Videokonferenzen ermöglichen grenzenlose Zusammenarbeit. Auch im Gesundheitsbereich eröffnen sich neue Möglichkeiten durch zahlreiche Fitness- und Gesundheits-Apps. Digitale Plattformen fördern kreative Ausdrucksformen wie Kunst, Musik und Videos und ermöglichen es, miteinander in Kontakt zu treten. Soziale Netzwerke verbinden Menschen weltweit, fördern den Austausch und schaffen Gemeinschaften. Computerspiele bieten nicht nur Unterhaltung, sondern auch interaktive Erlebnisse, die soziale Kontakte und Kooperationen fördern können.

Im Durchschnitt schauen erwachsene Menschen rund 53- bis 80-mal pro Tag auf ihr Smartphone. Das entspricht einem Blick alle 15 Minuten der täglichen Wachzeit.
Barbara Unterholzner ²

Risiken und Gefahren

Trotz ihrer vielen Vorteile gibt es auch Risiken und Gefahren, die die körperliche und psychische Gesundheit massiv beeinträchtigen können. Ständig erreichbar zu sein und die Informationsflut aus den sozialen Netzwer­ken verarbeiten zu müssen, kann einen enormen Druck erzeugen. Jederzeit frei zugängliche gewalthaltige oder pornografische Inhalte können die Entwicklung von ­Kindern und Jugendlichen negativ beeinflussen. Cybermobbing und Cybergrooming sind auf digitalen Plattformen weit verbreitet und stellen eine ernste Gefahr dar. Oft wird sehr sorglos mit persönlichen Daten umge­gangen, was zu Identitätsdiebstahl, Datenschutz- und Privatsphäre-Verletzungen führen kann.

Digitale Medien als Zeiträuber

Die Zeit, die Menschen vor Bildschirmen verbringen, steigt massiv. Die nebenstehende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Nutzungs­zeiten im Jahr 2024. Bei Erwachsenen liegt die durchschnittliche Freizeit-Bildschirmnutzung bei 6,5 Stunden täglich.¹

Bewusster Sog – von Techkonzernen gesteuert

Entwickler und Designer setzen gezielt Mechanismen ein, die das Verhalten der Nutzer beeinflussen, indem sie auf das Belohnungssystem im Gehirn wirken. Personalisierte und emotionalisierte Inhalte motivieren dazu, immer weiter zu scrollen. Es entsteht eine verzerrte Zeitwahrnehmung und die Reflexion über den eigenen Medienkonsum wird erschwert.

Physische und psychische Folgen von übermässiger Mediennutzung

Zu den häufigen körperlichen Beschwerden zählen Haltungsschäden, Sehprobleme und Schlafstörungen. Psychisch können Konzentrationsstörungen, Lernprobleme und erhöhter Stress auftreten. Depressionen und Angststörungen sind häufige Komorbiditäten. Im allge­meinen Sprachgebrauch werden oft Begriffe wie Computer­spielsucht, Internetsucht oder Medienabhängigkeit verwendet. In der Fachwelt und im klinischen Bereich wird der Begriff «Internetnutzungsstörung» bevorzugt, da er weniger stigmatisierend ist und eine differenziertere Betrachtung ermöglicht.

Kinder und Jugendliche sind durch diese Mechanismen besonders gefährdet, da Selbstregulation, Impulskontrolle und Reflexionsfähigkeit noch in der Entwicklung sind.
Barbara Unterholzner

Internetnutzungsstörung: Ein Überblick

Die Internetnutzungsstörung (INS) ist eine psychische Störung, die durch exzessive oder problematische Internetnutzung gekennzeich­net ist und zur Gruppe der Verhaltenssüchte zählt. Sie umfasst verschiedene Berei­che, in denen eine problematische Nutzung auftreten kann:

  • Computerspiele (On- und Offline)
  • Soziale Netzwerke
  • Internet-Pornografie
  • Streaming
  • Online-Shopping
  • Online-Glücksspiel
  • Exzessives Surfen & Downloads

Gaming Disorder: Eine spezifische Form der Internetnutzungsstörung

Die Gaming Disorder (Computerspielstörung) ist eine spezifische Form der Internetnutzungsstörung, die 2018 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als offizielle Diagnose unter dem Code 6C51 in die ICD-11³ aufgenommen wurde. Sie ist durch folgende Hauptkri­terien gekennzeichnet:

  • Kontrollverlust über das Spielverhalten
  • Zunehmende Priorität des Spielens gegenüber anderen Aktivitäten
  • Fortsetzung oder Steigerung des Spielens trotz negativer Konsequenzen

Diese Symptome müssen über einen Zeitraum von mindestens 12 Monaten auftreten und zu erheblichen Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen führen. Betroffene riskieren oder verlieren dabei wichtige Bezie­hungen oder den Job, sie beenden Schullaufbahnen, Ausbildungen etc.

Es ist wichtig, zwischen einer intensiven und pathologischen Nutzung zu unterscheiden, da nicht jeder intensive Medienkonsum zwangsläufig krankhaft ist. Liegt ein Suchtverhalten vor, erfordert dies in der Regel eine ambulante Therapie oder, in schwereren Fällen, einen stationären Aufenthalt in einer spezialisierten Einrichtung.
Barbara Unterholzner

Fallbeispiel 1: Tom, 17, Flucht in die Welt der Computerspiele

Internetnutzungsstörung, als er durch Mobbing und schulische Probleme in die Welt der Computerspiele flüchtete. Die exzessive Nutzung führte dazu, dass Toms Schulleistungen immer schlechter wurden, er seine ­Hobbys und realen Kontakte vernachlässigte und schliesslich die Kontrolle über seinen Alltag verlor. Gemeinsam mit einem Psychologen, der eine Verhaltenstherapie durchführte, arbeiteten wir daran, die zugrunde ­liegenden verzerrten Denkmuster zu verändern und Toms familiäre Beziehungen zu stärken. 

In der systemischen Beratung betrachteten wir auch die eingefahrenen negativen Kommunikationsmuster in­nerhalb der Familie, die das Problem verschärften. Ein ­wichtiger Schritt war, alternative Aktivitäten wie z. B. Klettern zu finden, die ihm sowohl körperlich als auch sozial neue Perspektiven eröffneten. Nach mehreren Monaten konnte Tom seine Spielzeiten deutlich reduzieren und fand wieder einen gesünderen Umgang mit digitalen ­Medien.

Fallbeispiel 2: Sina, 19, Exzessive Social-Media-Nutzung und Depression

Sina, eine 19-jährige Auszubildende, strebte eine Karriere als Influencerin an und verbrachte ihre gesamte Freizeit monatelang ausschliesslich in den sozialen Medien. Ihre Online-Präsenz verstärkte ihre Selbstzweifel. Sie wurde depressiv und entwickelte Suizidgedanken. Nach einem Klinikaufenthalt und einer ambulanten Therapie mit Fokus auf Selbstwertaufbau arbeiteten wir an einer ­verantwortungsbewussten und reflektierten Mediennutzung. Zusammen mit ihrer Familie fand Sina Stra­tegien, ihre Online-Zeit zu reduzieren und ihre sozialen Beziehungen im realen Leben aufzubauen und zu stärken. Sina entdeckte ein neues Interesse an Fotografie, das ihr half, neue Kontakte zu knüpfen und ihre Kreativität auszuleben. Nach einem Jahr hatte sie sich beruflich neu orientiert, einen realen Freundeskreis aufgebaut und ein gutes digitales Gleichgewicht gefunden. 

Beide Fallbeispiele machen deutlich, wie wichtig es ist, die eigene Mediennutzung und die damit verbundenen Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Bei einer Internetnutzungsstörung spielen mehrere Faktoren eine Rolle. 

«Hohe Nutzungszeiten allein machen nicht süchtig. Jedoch bietet das Internet den perfekten Raum für Ablen­kung aller Art, um eigene Gefühle nicht mehr zu spüren und Sorgen zu vergessen.» 

Schnelle Erfolge und Belohnungen erzeugen Digital­dopamin, das jedoch auf Dauer weder befriedigt noch glücklich macht. Selbstoptimierungszwang und das ständige Vergleichen mit der scheinbar perfekten Welt anderer können dazu führen, dass man sich immer weiter von sich selbst entfernt.  

Ein verantwortungsbewusster Umgang mit digitalen Medien ist entscheidend, um ein gesundes Gleichgewicht zwischen der realen und der virtuellen Welt zu bewahren. 

Die Digitalisierung bietet viele Vorteile, doch sie darf nicht das Leben in der realen Welt ersetzen.

Digitales Gleichgewicht finden – der Realität den Vorrang geben

eigene Mediennutzung und die damit verbundenen Gewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Bei einer Internetnutzungsstörung spielen mehrere Faktoren eine Rolle.

«Hohe Nutzungszeiten allein machen nicht süchtig. Jedoch bietet das Internet den perfekten Raum für Ablen­kung aller Art, um eigene Gefühle nicht mehr zu spüren und Sorgen zu vergessen.»

Schnelle Erfolge und Belohnungen erzeugen Digital­dopamin, das jedoch auf Dauer weder befriedigt noch glücklich macht. Selbstoptimierungszwang und das ständige Vergleichen mit der scheinbar perfekten Welt anderer können dazu führen, dass man sich immer weiter von sich selbst entfernt.

Ein verantwortungsbewusster Umgang mit digitalen Medien ist entscheidend, um ein gesundes Gleichgewicht zwischen der realen und der virtuellen Welt zu bewahren.

Die Digitalisierung bietet viele Vorteile, doch sie darf nicht das Leben in der realen Welt ersetzen.

Barbara Unterholzer

Barbara Unterholzner hat Medienkommunikation M.A. mit den Schwerpunkten Medienpsychologie und Medienpädagogik studiert und ist systemische Therapeutin (DGSF). Sie arbeitet selbstständig in ihrer Praxis «Echt Mensch» (https://www.echt-mensch.de/). Neben medienpädagogischen Veranstaltungen für Kindergärten, Schulen und soziale Einrichtungen berät und begleitet sie Einzelpersonen, Paare und Familien bei exzessiver und pathologischer Mediennutzung. Seit drei Jahren unterrichtet sie das Modul «Medienpädagogik» an der ICP. 

Quellen

  1. Quellen für die Nutzungszeiten: Kim-, Jim- und James-Studien 2024, Postbank Jugend-Digitalstudie 2024, ARD/ZDF-Onlinestudie 2024, Postbank-Jugenddigitalstudie 2024, IGEM-Digimonitor 2024, Statista-Umfrage zur Bildschirmzeit von Kindern und Jugendlichen
  2. https://www.chip.de/news/Erschreckende-Ergebnisse-So-suechtig-sind-Menschen-nach-ihrem-Smartphone_
    185148560.html
  3. Die ICD-11 ist die neueste Version der Internationalen
    Klassifikation der Krankheiten, herausgegeben von der WHO und offiziell gültig seit dem 1. Januar 2022

Literatur

  • Illy, D. (2022). Ratgeber Videospiel- und Internet­abhängigkeit: Hilfe für den Alltag, 2. Auflage, München: Urban & Fischer
  • DAK-Studie 2024, Gaming, Social-Media und Corona,
    Hamburg: DAK-Gesundheit,
    https://www.dak.de/dak/unternehmen/reporte-forschung/dak-studie-mediensucht-2023-24_56536 
  • Prävalenzen zu Internetnutzungsstörungen in der Schweiz, https://fachverbandsucht.ch/download/1658/240702_
    Synthesebericht_def.pdf
  • Internetbezogene Störungen in Deutschland,
    https://datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de/
    internetbezogene-stoerungen 
  • Grunddaten Jugend und Medien 2024,
    https://izi.br.de/deutsch/Grundddaten_Jugend_Medien.pdf 
  • JAMES-Studie 2024 (ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften),
    https://www.zhaw.ch/storage/hochschule/medien/news/
    2024/241128_MM_JAMES-Studie/JAMES_Studie_2024.pdf
  • JIM-Studie 2024 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest)
    https://mpfs.de/studie/jim-studie-2024/ 
  • Postbank Jugend-Digitalstudie 2024,
    https://www.postbank.de/themenwelten/wissen-leben/
    ergebnisse-der-juengsten-postbank-digitalstudie.html 
  • ARD/ZDF-Onlinestudie 2024,
    https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/ 
  • Mediapulse AG für Medienforschung (Schweiz),
    https://www.mediapulse.ch/ 
  • IGEM-Digimonitor 2024 (Interessengemeinschaft
    elektronische Medien, Schweiz)
    https://www.igem.ch/digimonitor-studie-mediennutzung/

Ausblick 1/25

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