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Von der «Problemwüste» in die Oase der Lösungen

Wie der lösungsorientierte Ansatz helfen kann, Hoffnung zu wecken und Lösungen zu entdecken.

In diesem Artikel möchte ich Sie einladen, sich über altbekannte Denkmuster hinaus auf den Weg zu machen in eine «Oase der Lösungen» oder ein Land der Möglichkeiten, in welche uns die Lösungs- und Ressourcenorientierung führen kann. Vielleicht kennen Sie – entweder aus Ihrem Berufsalltag oder Ihrem Privatleben – das Gefühl, nicht weiterzukommen, in der Wüste zu stehen, vor lauter Wald die Bäume nicht mehr zu sehen, in Problemen zu ertrinken und nicht weiter zu wissen. Hier bietet der lösungs- und ressourcenorientierte Ansatz einen Ausweg: den Dreh weg von den Problemen hin zum Wunderland oder der Oase der Lösungen. Dabei können die folgenden Grundannahmen helfen, die später an einem konkreten Fallbeispiel erläutert werden.

wüste

Etwa zehn Jahre arbeitete ich in der Kinder- und Jugendhilfe als interne Psychologin in Kinder- und Jugendheimen und habe dabei an vielen Gesprächen teilgenommen. Am Anfang stand jeweils der Auftrag sowie die Festlegung der Ziele, die erreicht werden sollten. Jedoch drehte es sich häufig um Probleme. Probleme, die manchmal unüberwindbar erschienen: Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Perspektivlosigkeit bei den Kindern und Jugendlichen, die in ihrem Rucksack häufig schwere Schicksalsschläge und Traumatisierungen mit sich brachten. Viele hatten oft nicht nur eine psychiatrische Diagnose: soziale Ängste, Depressionen, emotional-instabile Persönlichkeitsmuster, ADHS, Störungen des Sozialverhaltens, Essstörungen etc. Manchmal steckten sie in ihren Problemen fest, waren wie festgekettet und Problemverhaltensweisen wiederholten sich immer und immer wieder. 

Viele Ansätze, egal ob pädagogische oder psychologische, fokussieren im ersten Schritt darauf, das Problem zu erkunden, eine Diagnostik zu machen. Damit begibt man sich auf eine «Rückwärtssuche». Das eigentliche Problem (z.B. Depression, ADHS, Trauma in der Kindheit etc.) müsse ans Licht geholt und ins Bewusstsein gebracht, als Hindernis aus dem Weg geräumt, als Defekt repariert werden. Jedoch kann es bei zu starker Fokussierung der Probleme zu einer Aktualisierung von Hilflosigkeit kommen. Klienten:innen werden nicht befähigt, das Problem zu lösen, sondern fühlen sich eventuell hilflos oder nehmen dieses noch präsenter wahr.  

Der lösungs- und ressourcenorientierte Ansatz basiert auf der Idee, dass jedes Problem auch Potenziale und Ressourcen birgt, um eine Lösung herbeizuführen. Anstatt sich ausschliesslich auf Defizite und Schwächen zu konzentrieren, richtet dieser Ansatz den Blick auf die vorhandenen Stärken und Ressourcen, definiert klare Ziele und ist damit vorwärtsgerichtet. Durch eine positive Herangehensweise wird die Kreativität gefördert und neue Lösungswege können sich öffnen. Mithilfe von lösungsorientierten Fragen (siehe Kasten) werden Ressourcen aktiviert, positive Veränderungen angeregt und neue Perspektiven eröffnet. Wie dies in der Praxis aussieht, schauen wir uns jetzt am Beispiel des 15-jährigen Max (Name geändert) an.

Max beschrieb in einem Gespräch seine Situation wie folgt: Er befinde sich mitten in der Wüste. Alles sei trocken und leer. Der Wind wehe getrocknete Büschel umher. Um sich herum sehe er nichts, zum Teil tauche ein dichter Nebel auf. Er habe keine Hoffnung und könne nichts in seiner Zukunft sehen. Max hatte zu diesem Zeitpunkt keine Tagesstruktur, konnte aufgrund von Ängsten und depressiven Stimmungen nicht arbeiten und hatte einige Monate zuvor seinen Bruder durch einen Suizid verloren. Seine Eltern lebten getrennt, weil der Vater spiel- und drogensüchtig war. Der ältere Bruder hatte vor seinem Suizid gedealt. Das Einzige, wofür Max sich zu diesem Zeitpunkt interessierte, war, zu gamen. Er gamte, kommentierte das Spiel und lud diese Spielkommentare dann auf Youtube hoch. Nun war er gegen seinen Willen im Heim fremdplatziert worden.

Was können Helfende in so einer Situation tun? Wie kann bei einer Fülle von Problemen, die häufig eine erdrückende Schwere mit sich bringt, wieder Hoffnung geschöpft werden? Wie kann hier eine Lösungs- und Ressourcenorientierung helfen?

1. Annahme: Menschen haben (in ihrem subjektiven Bezugsrahmen) immer «gute Gründe» für ihre Handlungen

Von aussen betrachtet und ohne jegliches Wissen über die Geschichte von Max könnte man sagen, dass er wohl einfach ein fauler Taugenichts ist, der keine Lust auf eine Ausbildung hat und lieber gamt. Quasi ein Querdenker oder Querulant, der mit dem Schweizer System auf Kriegsfuss steht. Ziehen wir jedoch eine lösungsorientierte Brille auf und gehen davon aus, dass jedes Verhalten einen guten Grund hat, dann können wir anfangen, diesen bei Max zu erkunden und Fragen zu stellen: Warum verhält er sich so? Wieso kann er nicht in eine Schule oder eine Berufslehre? Was sind seine Gründe?

2. Annahme: Wenn etwas funktioniert, mach mehr davon

Max steckte in seiner «Problemwüste» fest: Er war antriebslos, schaffte es nicht, morgens aufzustehen und einer Tagesstruktur nachzugehen. Es fehlte die Motivation und der Sinn in seinem Leben. Um im Jugendwohnheim leben zu können, war eine Grundvoraussetzung die, dass man eine externe Tagesstruktur hatte (z. B. Schule, Ausbildung, Arbeitsintegrationsprogramm). Im Team wurden Stimmen laut, dass er am falschen Ort sei und es so keinen Sinn mache. Wie konnte also der Dreh, weg vom Problem hin zu einer Lösung funktionieren? Wie konnte man Max aus seiner «Problemwüste» herausholen? 

Es gelang, durch die Anwendung der 2. Annahme: Wenn etwas funktioniert, mach mehr davon. Das Einzige, was bei Max funktionierte, war das Gamen. Also, warum nicht das Gamen zur Tagesstruktur machen? Vielleicht denken Sie jetzt beim Lesen: Was, das geht doch nicht! Das Gamen ist doch eher eine unangemessene, maladaptive Bewältigungsstrategie (also eine Flucht vor schweren, unangenehmen Emotionen und aus dem Alltag), das ist doch ein Problemverhalten. Ja genau, das Gamen war seine Überlebensstrategie und, eben auch, das Einzige, was noch funktionierte. Also beschlossen wir im Team, neue Wege zu gehen und hier einen lösungsorientierten Ansatz zu versuchen. 

3. Wenn etwas nicht funktioniert, mach etwas ander(e)s

Wir hatten Glück. Es funktionierte. Max hatte nun jeden Tag feste Zeiten, an denen er Videos produzieren sollte. Diese zeigte er nach Fertigstellung seiner Bezugsperson und lud sie dann auf Youtube hoch. So machte sich in ihm allmählich Hoffnung breit und die Vision, beruflich etwas in diese Richtung zu machen. Wenn das nicht funktioniert hätte, hätten wir ganz lösungsorientiert etwas anderes versuchen müssen. Hier lohnt es sich zum Beispiel, nach Ausnahmen zu fragen: Gibt es Tage, an denen du nicht in der Wüste steckst? Was ist an diesen Tagen anders? Aus den Ausnahmen lassen sich dann sehr oft kleine erste Schritte und Teilziele ableiten. 

4. Repariere nichts, was nicht kaputt ist

Um herauszufinden, was repariert werden darf und was nicht, kann eine Falllandkarte erstellt und in einem ersten Schritt beantwortet werden, was die Ziele der Klienten:innen selbst sind und was die Ziele der Institution, also z.B. der Kinder- und Jugendhilfe, Beratungsstelle etc. So konnte Max beispielsweise in seiner «Problemwüste» keine Ziele entwickeln, weil er dort feststeckte und es ihm einfach schlecht ging. Er brauchte wieder Hoffnung, jemanden, der ihn aus der Wüste in die Oase der Lösungen geleitete. Die Institution hatte hingegen als wichtigstes Ziel der Platzierung, dass er eine feste Tagesstruktur wahrnehmen kann. 

In einer Falllandkarte (siehe Roessler & Gaiswinkler, 2020) werden die folgenden Fragen schriftlich beantwortet:

  • Was ist passiert? Welcher Schaden ist beim Kind/Jugendlichen/ Erwachsenen entstanden? Was bereitet dem Netzwerk Sorgen? Welche Sorgen lassen sich für die Zukunft ableiten? Welche Faktoren erschweren den Umgang mit der Situation?
  • Was funktioniert gut? Was läuft gut? Welche Ressourcen sind vorhanden? Wie ist das Genannte gelungen?
  • Was muss passieren (nächste Schritte)? Woran wird eine Verbesserung erkennbar sein? Was ist der nächste gute Schritt, der allen zeigt, dass es in die richtige Richtung geht?
Oase der Lösungen

5. Veränderung findet immer statt

Max stand nun jeden Tag auf, um zu gamen. Er machte also das, was er zuvor auch gemacht hatte. Allerdings war dies nun seine offizielle Tagesstruktur und eine Veränderung fand statt: Max fühlte sich gesehen und verstanden und, was viel wichtiger war, er entwickelte wieder eine Vision für sein Leben. Er wollte professioneller Gamekommentator werden und mit Youtube-Videos sein Geld verdienen. Ein Hoffnungsfunke hatte sich in seinem Herzen platziert und konnte nun weiterwachsen. Auch wenn manchmal nach aussen hin noch keine Veränderung sichtbar ist oder etwas diese Zeit braucht: Veränderung findet immer statt! 

6. Hoffnung und Zuversicht sind die Wirkfaktoren professioneller Helfer

Das Jugendheim hatte sich damals mit Max auf eine Reise begeben und es gewagt, neue, lösungsorientierte Wege zu gehen. Ganz entscheidend und damals ein Wendepunkt für Max war es, dass seine Bezugsperson und ich wussten, dass wir ihn aus der Problemwüste herausholen können. Dass Hoffnung besteht und, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt, wenn wir offen sind, danach zu suchen. 

Ich hoffe, dass Sie aus dem Beispiel von Max etwas für Ihren beruflichen oder privaten Alltag mitnehmen und sich von Ihrer eigenen Problemwüste in Richtung  Oase der Lösungen aufmachen können. Jedes Problem bietet die Chance, gelöst zu werden und in unseren Klienten:innen bzw. in uns selbst liegen die Lösungen sowie zahlreiche Ressourcen versteckt. Wir müssen sie nur entdecken und dabei Hoffnungsträger:innen sein. Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg!

Julia Wegmann
Psychotherapeutin und Dozentin ICP

Portrait Julia Wegmann

> Julia Wegman arbeitet seit 2021 als Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in eigener Praxis. Zuvor hat sie 10 Jahre in Kinder- und Jugendheimen als interne Psychologin und 3 Jahre in Delegation bei einem Psychiater gearbeitet. Seit 2022 ist sie Dozentin für Entwicklungspsychologie, Sozialisation und Lösungs- und Ressourcenorientiertes Arbeiten an der ICP.

Literaturverzeichnis

  • Bamberger, G. (2022). Lösungsorientierte Beratung. Weinheim: Beltz.
  • Bamberger, G. (2017). Lösungsorientierte Fragen. Therapiekarten. Weinheim: Beltz
  • Baeschlin, K. / Baeschlin, M. (2012a). Einfach aber nicht leicht. Leitfaden für lösungsorientiertes Arbeiten in sozialpädagogischen Organisationen. (5. überarbeite Auflage) Winterthur ZLB Verlag.
  • Baeschlin, K. / Baeschlin, M. (2012b) Lösungsorientierter Umgang mit sich selbst, Schriftenreihe «Einfach, aber nicht leicht», Band 5, Winterthur ZLB Verlag.
  • Baeschlin, K. / Baeschlin, M / Wehrli, M. (1994). Die Anwendung des lösungsorientierten Handlungsmodells am Beispiel der Werkschule Grundhof Winterthur. Winterthur: Werkschule Grundhof.
  • Berg, I.K / Shilts, L. (2005) Der WOWW Ansatz: Handbuch für lösungs(er)schaffende Strategien im Unterricht. Schriftenreihe «Einfach, aber nicht leicht», Band 3, Winterthur: ZLB Verlag
  • de Shazer, S. (2002) Der Dreh. Überraschende Wendungen und Lösungen in der Kurzzeittherapie. (7. korr. Auflage). Heidelberg: Carl-Auer-System Verlag.(Erstauflage 1992; 13. erweiterte Auflage 2015).
  • Roessler, Marianne; Gaiswinkler, Wolfgang: In: Faszination Lösungsfokus. Wie du mit gezieltem Blick die gewünschte Zukunft gestaltest (2020: 131-141). 1. Auflage. Versus Verlag, Zürich 
  • Gaiswinkler, Wolfgang & Roessler, Marianne, (2004). Wunder, Skalen, Komplimente und ein anderer Blick – von den KlientInnen lernen. Die Anwendung des lösungsfokussierten Ansatzes nach Steve de Shazer und Insoo Kim Berg in Organisationsberatung und Supervision. http://www.netzwerk-ost.at/publikationen/pdf/oevs_schriftenreihe_2004_03.pdf
Magazin

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