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Inklusion durch innovative Konzepte

Mit der HF-Klasse, welche nächsten Sommer diplomiert wird, durfte ich das neue, spannende Modul «Gesellschaftliche Entwicklungen und innovative Konzepte» im September ein erstes Mal zusammen durchnehmen. Frei nach dem Motto «Nichts ist so sicher wie die Veränderung» haben wir zurückgeblickt, die Gegenwart betrachtet und mögliche innovative Zukunftsprojekte angeschaut oder angedacht. Dies alles im Bewusstsein, dass bei gesellschaftlichen Entwicklungen immer Spannungsfelder entstehen, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinanderzusetzen haben und die auch Auswirkungen auf die Soziale Arbeit haben. Wir als ICP sind gefordert – und dabei!

Gesellschaftliche Segensspuren seit 2000 Jahren

Die Geburtsstunde der Diakonie finden wir in der Apostelgeschichte 2 und 6, 1-6. Aus diesem ganzheitlichen Verständnis für Menschen in Not und einem sehr gemeinschaftsorientierten Lebensstil haben Christen durch ihr Engagement über die Jahrhunderte zum Ausbau des Gesundheitswesens, des Sozialwesens und der Bildung beigetragen. Klöster bildeten dabei eigentliche Lebenszentren, wo das Leben pulsierte. Auch unser Schweizer Rechtssystem basiert auf einem christlichen Menschenbild und christlichen Werten.

Die professionelle Sozialarbeit hat ihren Ursprung im England des 19. Jahrhunderts und ihre Wurzeln in den sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen, welche die industrielle Revolution mit sich brachte, insbesondere im gesellschaftlichen Kampf gegen die daraus resultierende Massenarmut in den Städten und die damit verbundenen Probleme. Genau in diese Not hinein gründeten William und Catherine Booth die Heilsarmee als eine Antwort auf die Umwälzungen und die Nöte, welche diese Veränderungen mit sich brachten. Noch heute ist die Heilsarmee weltweit gesehen die christliche Institution mit dem wohl besten Ruf: 

«Die Heilsarmee ist eine christliche Freikirche mit ausgeprägter sozialer Tätigkeit. Sie nahm im Jahr 1865 in London ihren Anfang und verbreitete sich ab den 1880er Jahren schrittweise über die ganze Welt. Seit 2018 ist sie in 131 Ländern vertreten. Sie ist Mitglied der Weltweiten Evangelischen Allianz.» Wikipedia

Gesellschaftliche Zerstörungsspuren mit Nachhall

Die Kreuzzüge stehen wie ein Schatten über der Geschichte und werden insbesondere in gewissen islamischen Gruppen noch heute als Rechtfertigung für Krieg und Terror gegen die abendländische christliche Welt genutzt. Leider war die Kirchengeschichte auch von Machtkämpfen, Geldgier und sexuellen Verfehlungen geprägt. Die Reformation war eine der Antworten darauf. Doch die destruktiven Faktoren dieser Verfehlungen hallen bis in die heutige Zeit nach.

Einsamkeit: die neue Volkskrankheit im 21. Jahrhundert!

Die grosse Gefahr der Individualisierung ist die Einsamkeit, unsere neue Volkskrankheit mit massiven gesundheitlichen Folgen. Jede dritte Person in der Schweiz bezeichnet sich als einsam. Dieser Wert ist im Laufe der vergangenen Jahre stetig angestiegen. Durch die Pandemie wurde diese Tendenz noch verstärkt. Die WHO hat die Einsamkeit im Jahr 2023 zum globalen Gesundheitsproblem erklärt. Sie wird dann problematisch, wenn sich das Gefühl der Einsamkeit verfestigt und Leidensdruck entsteht.

Chronische Einsamkeit macht nicht nur unglücklich, sondern kann auch Stress verursachen, der regelrecht krank macht, psychisch wie physisch. Unter Anspannung schüttet der Körper das Stresshormon Cortisol aus. Vermehrte Isolation und Einsamkeit bedeuten folglich Stress, der ernst zu nehmende gesundheitliche Folgen wie Schlafstörungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit sich bringen kann. Soziale Isolation macht unser Gehirn älter und weniger leistungsfähig, wie Forschende nun herausgefunden haben. Demnach nimmt bei über 50-Jährigen mit wenigen sozialen Kontakten die graue Hirnsubstanz stärker ab als bei sozial eingebundenen Personen. Und damit kommen wir zu zwei Spannungsfeldern der Veränderung. 

Spannungsfeld 1: Alterspyramide vs. Ressourcen

Die Bevölkerung der Schweiz wird in den nächsten beiden Jahrzehnten massiv älter, was die Sozialkosten und die Gesundheitskosten weiter wachsen lassen wird. 

Ende 2023 waren 

  • 19,9 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz
    unter 20 Jahre alt, 
  • 60,7 Prozent zwischen 20 und 64 Jahre und
  • 19,3 Prozent 65 Jahre und älter. 

In den kommenden 30 Jahren wird sich die Alterspyramide verändern. Gemäss allen prognostizierten Szenarien verbreitert sich die Spitze der Alterspyramide allmählich, da die Babyboom-Generationen in die höheren Altersklassen eintreten. Hingegen kann sich die Basis der Alterspyramide, je nach Hypothese der Geburtenhäufigkeit, entweder verbreitern, wenn es mehr Geburten gibt, oder bei einem Geburtenrückgang auch verschmälern. Der Anteil der Erwachsenen im Alter von 20 bis 64 Jahren an der Gesamtbevölkerung sinkt von 61,5 % im Jahr 2018 auf 57,8 % im Jahr 2030, 56,0 % im Jahr 2040 und schliesslich auf 55,1 % im Jahr 2050. 

Die Alterspyramide wird zur Urne und die Sozialkosten steigen, was dazu führen wird, dass uns die personellen und materiellen Ressourcen fehlen. Es wird neue, innovative Konzepte brauchen, wie zum Beispiel dem ­TownVillage der Quellenhof-Stiftung in Winterthur oder dem Wendepark der Stiftung Wendepunkt in Oftringen. 

Spannungsfeld 2 – Inklusionsbemühungen vs. Institutionalisierung

Eine der Antworten der Gesellschaft bzw. der Sozialen Arbeit sind Inklusionsbemühungen auch im Sozialbereich. Da wird vieles versucht und der Grundsatz aus einem Artisetworkshop 2017 mit Betroffenen aus verschiedensten Institutionen gipfelte im Grundsatz: «Nicht ohne uns, über uns». Das ist ein wichtiger Schritt zu mehr Mitbestimmung und Mitgestaltungsmöglichkeiten. Die Schwierigkeit ist, dass das Zusammenleben in Institutionen von der Übungsanlage her nicht wirklich inkludierend ist und es dort noch viel Raum zur Verbesserung und zum Finden neuer Wege gibt. Besonders bezüglich der Bindungssicher­heit, welche höchstens eine Sicherheit auf Zeit sein kann. Nach wie vor existieren zahlreiche gesellschaftliche und gesetzliche Hindernisse. Dazu gehört, dass unter dem Deckmantel der Inklusion Minderheiten das Diktat in der Gesellschaft auf Kosten der Mehrheit für sich beanspruchen. Die fehlende Solidarität durch den Individualismus bis hin zur Gleichgültigkeit trägt wenig zu einer gelingenden Inklusion bei.

Dazu ein Zitat aus einer kürzlichen Predigt von Reto Lussi in der GvC Winterthur: «Unsere Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten weitgehendst dem Individualisierungstrend erlegen. Die Auswirkungen dieses Phänomens prägen uns und unsere Gesellschaft. Individualismus sucht die Selbstverwirklichung und flüchtet, wenn Konflikte drohen oder Enttäuschung erlebt wurde. 

Auch das Christentum blieb von diesen Trends nicht verschont. Stichworte wie persönliche Beziehung zu Gott, Stille Zeit, etc. sind individualisierte Formen der Frömmigkeit. Diese sind alle nicht per se falsch. Aber sie haben eine Schlagseite, die dem Geschenk der Gemeinschaft widersprechen, welches die Not der Einsamkeit lindern könnte.

Ein guter Lackmustest in Bezug auf meine Art, den Glauben zu leben ist also: Leiten sie mich in tiefere Gemeinschaft mit Gott und anderen oder isolieren sie mich? Wenn wir in der Bibel lesen, wie die ersten Christen sich nach Pfingsten als Gruppe organisiert haben, dann fällt ein Stichwort besonders auf. Es scheint, als wäre Gemeinschaft das Kernmerkmal dieser jungen und dynamischen Bewegung gewesen.» 

Und genau in diesem Bereich sehe ich noch viele Möglichkeiten und gar ein mögliches USP (Unique Selling Propostion) für Christlich Soziale Institutionen. Doch dazu braucht es neue Wege, nämlich…

…eine neue Partnerschaft zwischen Kirchen und Christlich Sozialen Institutionen als Basis innovativer Konzepte

Ich bin der Überzeugung, dass wir angesichts der aufgezeigten Entwicklungen, den fehlenden Ressourcen an Fachkräften und der begrenzt stattfindenden Inklusion der Gesellschaft künftig nur gemeinsam nachhaltig dienen können. Ein solches Miteinander in vielfältiger Unterschiedlichkeit wird uns herausfordern, hat aber das Potenzial, zu unserem USP zu werden. Dies war in den Anfängen der Kirche und der Diakonie der Fall und ist heute noch genauso: Man reibt sich an der Unterschiedlichkeit, man stresst sich über (vermeintliche) Unzulänglichkeiten, aber wenn wir hier ein neues Miteinander schaffen, dann birgt das ein riesiges Ergänzungspotenzial. Genau diese Ergänzung wollen wir am 1. gemeinsamen Leiterforum der SEA, des Freikirchenverbands, von Interaction und von CISA wieder neu entdecken. So lautet ein Auszug des Einladungstextes zur anstehenden gemeinsamen Tagung anfangs Dezember (siehe Box).

Gemeinsam und nur gemeinsam haben wir viele Optionen, um Inklusion und Gemeinschaft zu fördern. Wir haben ein Beziehungsnetz und ein gewaltiges Potential an Ehrenamtlichen, welches den Menschen die Chance gibt, Bindungssicherheit und Normalität zu erleben. Zusammen können wir die Chancen eines verantwortungsvollen Umgangs mit christlicher Spiritualität zur Resilienz- und Gesundheitsförderung besser nutzen. Prof. Ralph Kunz von der Uni Zürich sagt: «Lass uns die Menschen inkludieren, wie Gott uns inkludiert». Dazu ist Vertrauen nötig als Basis, um Risiken einzugehen und Raum für neue mutige Wege zu schaffen! Gerne nehme ich Sie noch mit in meine Herzensträume:

Ich träume davon, dass

  • unser Miteinander von einem Bund von gene­rationsübergreifenden Freundschaften als Vorbild für unsere Gesellschaft gehalten wird!
  • wir unsere Ressourcen, sprich Zeit, Finanzen, Talente nutzen, um den Menschen zu dienen!
  • wir unsere Herzen, Häuser, Kirchen, Firmen und Familien öffnen als Antwort auf Einsamkeit!
  • wir noch mehr karitative/soziale Dienste wahrnehmen, und zwar unabhängig davon, ob diese vom Staat bezahlt werden oder nicht!
  • durch das Miteinander von Diakonie, Verkün­digung und der Kraft Gottes eine Reformation der Liebe unser Land durchströmt!

Ich hoffe, meine Träume haben Sie ermutigt, auch zu träumen und falls ja, lassen Sie den Träumen Taten folgen ganz nach C. G. Jung: «Du bist, was du tust, nicht was du sagst, was du tun wirst».

Marcel Mettler
Stiftungsratsmitglied ICP

Marcel Mettler war Student in der 1. Klasse der ICP (damals noch SCS), seit 2003 ist er im Stiftungsrat der ICP. Er war Mitgründer und über 28 Jahre Leiter der Quellenhof-Stiftung, seit 2018 ist er Geschäftsführer der CISA (Christliche Institutionen der Sozialen Arbeit) mit über 70 Mitgliedsinstitutionen. 

Ausblick 2/24

Wir freuen uns sehr, dass unsere Klassen an der Höheren Fachschule für Sozialpädagogik für das kommende Studienjahr gut gefüllt sind. Dies zeigt nicht nur das wachsende Interesse an unserem Bildungsangebot mit dem Schwerpunkt auf Spiritualität und Fachlichkeit, sondern auch Bedeutung und Bedarf in unserer Gesellschaft.
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