Habe ich Angst oder hat die Angst mich?
Angststörungen zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der Schweiz. Sozialpädagogische Fachkräfte stehen vor der Aufgabe, diese Entwicklung fachlich wie auch spirituell zu verstehen und angemessene Unterstützungskonzepte zu entwickeln.
Epidemiologie und aktuelle Entwicklungen
Daten aus verschiedenen Studien wie auch Krankenkassenanalysen belegen einen deutlichen Anstieg von Angststörungen unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Betroffenen zwischen 15 und 29 Jahren mehr als verdoppelt.
Auch die stationären Behandlungszahlen verdeutlichen die Dramatik: Bei Mädchen zwischen 15 und 17 Jahren wurden 2022 rund ein Drittel mehr Angststörungen behandelt als noch 2019.¹ Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt, doch bereits vorher war ein kontinuierlicher Anstieg zu beobachten.
Neben klassischen Symptomen wie Panikattacken, generalisierter Angst und sozialer Phobie treten vermehrt Mischformen auf. Viele junge Menschen berichten von diffusen Ängsten, die sich nicht klar benennen lassen. Sie fühlen sich überfordert, haben Angst vor Versagen, sozialem Ausschluss oder der Zukunft im Allgemeinen.
Laut der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2022 leiden etwa 20 % der Jugendlichen zwischen 15 und 24 Jahren an einer behandlungsbedürftigen Angststörung.Friedemann Alsdorf
Ursachen und Risikofaktoren
Die Gründe für die Zunahme von Angststörungen sind vielfältig:
- Digitale Medien: Ständige Erreichbarkeit, Vergleiche in sozialen Netzwerken, Cybermobbing und der Druck, sich ständig zu präsentieren. Jugendliche mit hoher Bildschirmzeit berichten signifikant häufiger von psychischen Problemen²
- Gesellschaftlicher Druck: Hohe Erwartungen an schulische und berufliche Leistungen, aber auch an das soziale Leben.
- Abnehmender Zusammenhalt: Zunehmende Trennungen, fehlende stabile Bezugspersonen, gesellschaftliche Polarisierungen und das Gefühl, nicht mehr Teil einer stabilen Gemeinschaft zu sein schüren Ängste vor dem Verlust von Zugehörigkeit.
- Krisenhaftes Weltgeschehen: Kriege, Klimakrise, wirtschaftliche und politische Unsicherheiten führen zu einem Gefühl der Ohnmacht.
Diese Faktoren wirken oft zusammen und verstärken sich gegenseitig.
Die Forschung betont inzwischen, dass gesellschaftliche Faktoren das Risiko für psychische Erkrankungen bei jungen Menschen entscheidend beeinflussen – eine Individualisierung der Ursachen, wie sie lange Zeit üblich war, greift zu kurz.³
Symptome und Auswirkungen
Angststörungen äussern sich bei jungen Menschen häufig anders als bei Erwachsenen. Neben klassischen Symptomen wie Herzrasen, Schweissausbrüchen oder Schwindel zeigen sich oft auch Rückzugsverhalten, Konzentrationsstörungen, Reizbarkeit und psychosomatische Beschwerden. Die schulische und berufliche Entwicklung kann erheblich beeinträchtigt werden.
Herausforderungen für die Sozialpädagogik
Sozialpädagog:innen sind oft die ersten, die mit den Auswirkungen von Angststörungen in Kontakt kommen. Sie beobachten junge Menschen im Zusammenleben, erkennen Veränderungen im Verhalten und können wichtige Vertrauenspersonen sein. Die Herausforderungen liegen darin, die feinen Signale wahrzunehmen, angemessen zu reagieren und den Betroffenen Halt zu geben. Je früher eine Angststörung erkannt und behandelt wird, desto besser ist die Prognose. Viele Jugendliche schämen sich für ihre Ängste und versuchen, sie zu verbergen.
Eine Beziehung ‹auf Augenhöhe› ist für Professionelle viel leichter herzustellen, wenn sie sich ihrer eigenen Ängste bewusst sind.Friedemann Alsdorf
Perspektiven und Handlungsansätze einer christlichen Sozialpädagogik
Christliche Sozialpädagogik sieht den Menschen als einzigartiges Geschöpf Gottes mit einer unverlierbaren Würde. Sie rechnet damit, dass Gott weit über begrenzte menschliche Fähigkeiten hinauswirken kann und sucht dieses Wirken bewusst. Das hilft, immer neue Perspektiven zu finden, auch in schwierigen Situationen. Aus dieser Haltung heraus ergeben sich konkrete Handlungsansätze:
Beziehung als Fundament
Im Mittelpunkt steht die Beziehung. Junge Menschen erleben häufig, dass sie mit ihren Ängsten «uncool» wirken oder nicht dazugehören. Die Botschaft, dass jeder Mensch wertvoll und von Gott geliebt ist – unabhängig von Leistung oder psychischer Gesundheit – wirkt entlastend und stärkt das Selbstwertgefühl.
Ressourcenorientierung
Statt Defizite zu betonen, werden die Stärken und Fähigkeiten der jungen Menschen in den Blick genommen. Was gelingt mir trotz der Ängste? Welche Herausforderungen im Leben habe ich gemeistert? Was habe ich dabei gelernt? Wer oder was hat mir geholfen, die schlimmsten Stürme zu überstehen? Diese Perspektive gibt Mut und fördert das Erleben von Selbstwirksamkeit.
Spiritualität als Ressource
Spirituelle Angebote wie Gebet, Meditation, Psalmen oder Dankbarkeit können helfen, Angst zu relativieren und neue Zuversicht zu gewinnen. Die Bibel zeigt: Auch glaubende Menschen – selbst Jesus – kannten Angst. Statt Ablenkung helfen Sammlung und Stille, zur Ruhe zu kommen und Gottes Weg mit uns neu zu sehen. Schweigen auszuhalten und nicht sofort Lösungen anzubieten, ist oft wichtiger als gut gemeinte Ratschläge
Gemeinschaft und Zugehörigkeit
Angst isoliert, Gemeinschaft trägt. Kirchliche und sozialpädagogische Gruppen bieten einen Raum, in dem Jugendliche Gemeinschaft erleben, sich gegenseitig stärken und ihre Erfahrungen teilen können. Kunst, Musik, Theater oder Bewegung in Gemeinschaft bieten alternative Ausdrucksformen für Gefühle, die schwer in Worte zu fassen sind. Kreative Angebote fördern die Selbstwahrnehmung und helfen, Ängste zu verarbeiten.
Vergebung und Neuanfang
Fehler und Scheitern gehören zum Leben. Die Botschaft von Vergebung und Neuanfang entlastet und ermutigt,
auch nach Rückschlägen wieder aufzustehen. Dies kann helfen, den Perfektionsdruck zu relativieren. Der christliche Glaube eröffnet eine Perspektive der Hoffnung, die über das Hier und Jetzt hinausreicht. Wer auf einen Sinn hoffen kann, auch wenn er momentan nicht erkennbar ist, kann in Krisen und Unsicherheit Kraft schöpfen, um mit Ängsten umzugehen.
Konkrete spirituelle und existenzielle Hilfen zur Angstbewältigung
Angst und Furcht im Alltag, aber auch klinische Angststörungen sind meist eng mit existenziellen Fragen verbunden, zum Beispiel:
• Was gibt mir ein Gefühl von Geborgenheit/Gehaltensein?
• Was hilft mir, mich selbst anzunehmen – auch in schwierigen inneren Zuständen und Gefühlen?
• Wie finde ich Kraft, Zuversicht oder Hoffnung?
• Was sind meine Ziele? Was gibt mir ein Gefühl von Sinn?
Daher ist das Thematisieren von existenziellen und spirituellen Fragen bei Ängsten besonders hilfreich und
wichtig. Welche Art Hilfe für die konkrete Person Sinn ergibt, muss mit ihr gemeinsam herausgefunden werden!
Angst akzeptieren und Geborgenheit bei Gott suchen
Solange wir in der Welt sind, haben wir es mit Ängsten zu tun. Durch Christus haben sie aber nicht mehr das letzte Wort! So können wir üben, uns zu Gott hinzuflüchten und Ihm das Herz auszuschütten. In vielen Fällen ist es möglich, mit den jungen Menschen einen «inneren sicheren Ort» von Geborgenheit und Schutz aufzubauen, den dieser jederzeit und besonders in Angstsituationen wieder aufsuchen kann. In der Gegenwart Gottes kann die Bedrohung einen neuen Stellenwert erhalten. Auch durch das Verhalten des Helfers kann der Klient die Liebe Gottes erfahren.
Das Gefühl, Teil einer tragenden Gemeinschaft zu sein, wirkt Ängsten entgegen und fördert die psychische Gesundheit.Friedemann Alsdorf
Sorgen bewusst auf Gott werfen
Was ist (ängstliche) Sorge und was (sinnvolles) Planen? Wenn ich Sorge wahrnehme, kann ein willentliches «Werfen» der Sorge auf Gott sehr entlastend sein. Gott sein Vertrauen auszusprechen, kann uns helfen, aus inneren Sätzen wie «Alles, nur das nicht» oder «Nein, um keinen Preis!» herauszutreten. Das sind Sätze, die Angst schüren, was passieren könnte, wenn «das» trotzdem eintritt!
Habe ich Angst – oder hat die Angst mich?
Angst kann so stark werden, dass sie den Betroffenen ganz beherrscht. Man ist Sklave der Angst, gehorcht ihr völlig.
Ein wichtiger Schritt kann sein, sich bewusst gegen das Beherrschtwerden durch die Angst zu entscheiden und ihr mit Jesus oder einem anderen vertrauenswürdigen Begleiter an der Seite ins Gesicht zu schauen. Wie Jesus im Garten Gethsemane angesichts seiner eigenen Todesangst. Dabei beginnt ein Prozess, in dem Angst oft kleiner wird. Aus «Die Angst hat mich» kann «Ich habe gerade Angst» werden – was bereits entlastet.
Angstfixiert oder ressourcenorientiert?
Allerdings sollte die Angst nicht Hauptthema der Gespräche werden. Wichtiger sind Strategien zur Überwindung der Angst und Aufbau von Vertrauen. Bildlich ausgedrückt: Aus der Enge der Angst heraus stellt Gott meine Füsse auf weiten Raum (Ps.31). Es gilt, die Mitarbeit des jungen Menschen zu gewinnen, ihm zu eigenen Erfolgserlebnissen verhelfen. Ressourcen aufspüren, Teilerfolge sehen und dafür danken, das ist sehr hilfreich.
Durch Flucht und Vermeidung wird die Angst aufrechterhalten und immer weiter genährt.Friedemann Alsdorf
Ausblick
Angststörungen bei jungen Menschen sind ein gesamtgesellschaftliches Problem, das sozialpädagogisches und spirituelles Verstehen und Handeln gleichermassen herausfordert. Die Kombination aus fachlicher Kompetenz, empathischer Begleitung und spirituellen Ressourcen eröffnet vielfältige Wege, junge Menschen zu begleiten, zu stärken und ihnen Hoffnung zu geben, so dass sie auch in schwierigen Zeiten ihren Weg finden.
Friedemann Alsdorf. Diplom-Psychologe, Psychotherapeut und Supervisor, verheiratet, drei erwachsene Kinder, vier Enkelkinder. Nach kürzeren Berufszeiten in der Psychiatrie und der Sonderpädagogik war ich neun Jahre therapeutischer Leiter einer christlichen Drogentherapie. Seit 1997 bin ich Referent, Supervisor und Ansprechperson für Ratsuchende mit Suchtproblemen bei der IGNIS Akademie. Mit der Schweiz bin ich langjährig verbunden als Stiftungsrat, Dozent und Konzeptentwickler bei der ICP – und durch meine Liebe zu den Bergen. Meine Leidenschaft ist, christlichen Glauben mit fachlichen Erkenntnissen und Methoden so zu verbinden, dass daraus praktische Hilfen für Klienten und Professionelle entstehen.
Quellen
1 https://www.deutschlandfunkkultur.de/psychisch-krankkinder-jugendliche-100.html
2 https://www.swr.de/wissen/psychische-gesundheitzunehmend-schlechter-102.html https://www1.wdr.de/
nachrichten/studie-jugendliche-deutschland-gen-z-afd-102.html
3 https://www.swr.de/wissen/psychische-gesundheitzunehmend-schlechter-102.html
4 Bundesamt für Statistik (BFS, 2024): Schweizerische Gesundheitsbefragung 2022