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Autorität durch Beziehung

Zwischen einer herkömmlichen Autorität, die geprägt ist von Kontrolle, Distanz, Strafe, Unmittelbarkeit und einer verweigernden Autorität, die geprägt ist von Kontrollverlust, Grenzenlosigkeit, Chaos und mangelnder Konsequenz, etabliert sich mehr und mehr das Konzept der «Neuen Autorität», auch im professionellen Kontext. Haim Omer verfolgt in seinem neuen Buch «Autorität durch Beziehung» genau diesen Ansatz. In diesem Artikel gehe ich auf die ­grundlegenden Ideen dieses Konzeptes ein.

Eigentlich keine neuen Ideen, welche uns Haim Omer und Arist von Schippe in diesem Buch präsentieren. Oder doch? Der Titel hat sich seit der 6. Auflage im Jahr 2012 verändert. Das Anliegen und das Ziel sind geblieben: «Die Bücher vermitteln ganz offenbar nicht nur Trost, sondern sie geben den Betroffenen Handlungsmöglichkeiten in die Hand, wie sie die Falle des Entweder-oder vermeiden können, die Falle von Eskalation oder Nachgeben.» 

Die Autoren beschreiben Handlungsmöglichkeiten, die auf Gewalt und Macht verzichten, die auf Beziehung, Präsenz und Stärke setzen – eben nichts Neues unter der Sonne. Mit einem Exkurs in eine «alte Geschichte» steige ich in die Themen Beziehung, Präsenz und Stärke ein. «‹Was ist Dein Name?, was soll ich dann zu ihnen sagen?› Da sprach Gott zu Mose: ‹Ich bin, der ich bin (oder ich werde sein, der ich sein werde).› Dann sprach er: ‹So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der ‹Ich bin› hat mich zu euch gesandt›».

Ich könnte hier einige weitere biblische Geschichten aufzählen, die zeigen, dass der Gott der Bibel ein «Beziehungs-Gott» ist, ein Gott der immer da ist und bleibt. Wir wurden geschaffen als seine «Gegenüber» und deshalb ist «Beziehung» tief in uns verankert. Durch die ganze Bibel zieht sich dieses Thema: ich bin, der ich bin da. Welchen Einfluss übt diese Haltung auf uns aus – und auf unsere Pädagogik? Ich verzichte hier auf die Ausführungen zur Bindungs- und Systemtheorie. Ich überlasse es der Leserin und dem Leser, hier seine eigenen Gedanken zu formulieren und Bezugspunkte herzustellen.

Wenn ich in die Geschichte der Pädagogik und der Sozialpädagogik blicke, stelle ich fest, dass der Fokus immer stärker auf die Beziehung gelegt wird. Ich kenne keinen aktuellen Erziehungsratgeber, welcher nicht prominent betont, dass Erziehung nur mit Beziehung möglich ist. Bei dem «wie geht das im Alltag» erkenne ich doch noch einige Unterschiede, und vor allem viele Unsicherheiten bei den Erziehenden im Alltag. Fragen wie: «darf man das?», «sind Lob und Tadel in einem guten Rahmen okay?»,

«gibt es sinnvolle Strafen?» lassen mich immer wieder aufhorchen. Bei diesen Unsicherheiten erkenne ich zwischen Laien und Profis kaum Unterschiede. Sozialpädagogen «verstecken» sich oft hinter dem Regelwerk der Institution: «Ich muss diese Regeln und Strafen durchzie­hen – ich kann zwar nicht dahinterstehen…». Die Aussage, dass wenn Kinder und Jugendliche nicht gehorchen, die Erwachsenen die Autorität verlieren, höre ich immer wieder. Zeit für einen Richtungswechsel! Bevor ich zum Ansatz von Haim Omer und Arist von Schlippe komme, noch ein Zitat von Jesper Juul: «Wenn du wirklich möchtest, dass sich dein Kind verändert, musst du dich in erster Linie als Erwachsener verändern.»

Diese Überzeugung, diese Haltung finden wir auch in «Autorität durch Beziehung». Wer nun ein paar einfache «Tipps» zum Umgang mit sogenannt schwierigen Kindern und Jugendlichen erwartet, wird wohl etwas enttäuscht werden. Es geht im Konzept der «Neuen Autorität» in erster Linie um eine Haltung. Lasst mich dies zuerst mit zwei Bildern verdeutlichen. Ohne näher auf alle möglichen Erziehungsstile einzugehen, gehe ich zuerst von einer Grundhaltung aus, die ich im Alltag als Familienberater und Dozent am ICP am stärksten erkennen kann. Der Erwachsene beginnt mit einer Bitte – die er als Kumpel formuliert (und meint damit, dass er mit dem Gegenüber auf Augenhöhe geht): «Chumm, das mache mir doch schnäu, isch ja schliesslich dis Ämtli.» Die Fortsetzung ist meist sehr ähnlich: Das Ämtli wird nicht umgehend gemacht, der Ton wird etwas lauter, die Forderung immer klarer. Ich verdeutliche diesen Prozess mit einem Werkzeug: die Schraubzwinge.

Zuerst wird die Schraubzwinge geöffnet, es entsteht Spielraum. Bei «Bedarf» das heisst, wenn der Erfolg der Aufforderung nicht eintrifft, wird «geschraubt» – der Spielraum wird eingeschränkt – bis zum «Gehtnichtmehr». Kommt dir das bekannt vor? Das Ziel, welches hier verfolgt wird, heisst «Gehorsam». Es wird klar, wer der Chef ist, wer das Sagen hat – und die «gerechtfertigte Strafe» erfolgt in der Regel rasch.

In ihren Büchern beschreiben die Autoren einen anderen Weg, respektive eine andere Grundhaltung. Jesper Juul beschreibt das im oben genannten Zitat sehr präzise. Bei Haim Omer tönt das so: du kannst nur dich selbst kontrollieren! Diese Grundhaltung sorgt zuerst mal für Verunsicherung: Alles loslassen? Geht es wieder in Richtung des «Laissez-Faire»? Beziehung durch Präsenz beschreitet einen anderen Weg. Ich habe keine Kontrolle über dich; ich kann nur mich selbst beherrschen!

Coverbild von «Neue Autorität, das Handbuch»

Was steckt hinter dieser pointierten Aussage? Lasst mich zuerst auch da ein passendes Bild einführen: Die Ankerfunktion! Verschiedene Autoren beschreiben die Ankerfunktion als ein Grundprinzip von gelingender Erziehung. Als Freizeitkapitän kenne ich die Funktion des Ankers und dessen Handhabung gut. Im Gegensatz zur Schraubzwinge wird die Ankerleine im Sturm nicht kürzer, das Schiff wird nicht enger angebunden, sondern weiter! In der Regel heisst das: die Länge der Ankerleine soll drei bis fünf mal die Wassertiefe betragen. Das bedeutet, dass das Schiff «Spielraum» braucht und auch erhält – bis die Leine gestreckt ist und wir sicher sind, dass der Anker hält!

Beharrlichkeit statt Dringlichkeit

Zurück in den pädagogischen Alltag: Stell dir vor, du verzichtest auf den Druck durch die Schraubzwinge und arbeitest mit dem Bild des Ankers. Du gibst Sicherheit, aber nicht durch Druck sondern durch Präsenz: ich bin und bleibe da! Ich bleibe in Beziehung, was auch immer geschieht! Ich nehme mir die Zeit, um meine Gefühle, meine Haltung zu hinterfragen und durch die Selbstbeherrschung eine mögliche Eskalation zu verhindern. Diese Art von Präsenz vermittelt Sicherheit! Nichts in dieser Welt entbindet mich von der Aufgabe, die Beziehung nicht abbrechen zu lassen. Ein wesentlicher Grundsatz der Neuen Autorität lautet: Beharrlichkeit statt Dringlichkeit!

Sofortige Reaktionen erzeugen eine oberflächliche und augenblicksbezogene Art von Autorität. Beharrlichkeit dagegen erzeugt Kontinuität und Tiefe.

So wird Autorität auf Dauerhaftigkeit begründet – eben: ich bin da und werde da sein. Die zentralen Ankerfunktionen sind:

Struktur:
die erste Form der Verankerung

Hier geht es um die «Hausregeln». Vermitteln sie Klarheit und Sicherheit? Sind sie positiv formuliert, und dienen dem Ziel der Bindungsförderung?  Werden sie wo möglich ausgehandelt und mit der oben erwähnten Haltung: ich kann dich nicht kontrollieren festgelegt?

Präsenz und wachsame Sorge:
die zweite Form der Verankerung

Es geht, wie es Philip Streit beschreibt «um die Kunst des Daseins». Präsenz bedeutet erst einmal: ICH BIN DA!
…und nichts und niemand in der Welt kann mir diesen Platz streitig machen! Die verschiedenen Formen der Präsenz sind: innere und äussere Präsenz, räumliche Präsenz, zeitliche Präsenz (ich werde auch morgen da sein), strukturelle Präsenz (wir sind da), psychologische Präsenz (meine/unsere Werte und Haltungen sind immer da) so­wie die Beziehungspräsenz (ich bin für dich da, ich bin für dich ein sicherer Wert).

Die wachsame Sorge wird in drei Stufen beschrieben:

Wachsame Sorge 1: eine allgemeine, offene, alltägliche Wachsamkeit. Ich bin da und spüre, wie es dir geht! Ich habe meinen Finger an deinem Puls.

Wachsame Sorge 2: Bei Bedarf fokussiere ich meine Wachsamkeit und verleihe meiner Sorge Ausdruck. Ich suche nach Gründen für die «Verstimmung» in meinem Gegenüber. Diese verstärkte Präsenz wird in den meisten Fällen bereits eine Wirkung zeigen und das negative Verhalten vermindern. Auf dieser Stufe bleibe ich nur so lange als nötig.

Wachsame Sorge 3: Wo nötig schreite ich ein und leiste gewaltfreien Widerstand. Diese einseitige Massnahme sollte eine Ausnahme sein, so dass wir möglichst bald wieder auf die erste Stufe zurückkehren können.

Selbstkontrolle und Deeskalation:
die dritte Form der Verankerung

Zum Thema Selbstkontrolle verzichte ich auf weitere Ausführungen. Bei der Deeskalation geht es erst mal um das Identifizieren von Stürmen (siehe oben: die wachsame Sorge). Zur Erinnerung: Wir verzichten auf die Schraubzwinge und auf Vergeltungsmassnahmen. Wir steigen aus der Eskalationsspirale aus. Ein Zauberwort respektive eine Grundhaltung, die Omer immer wieder beschreibt: Beharrlichkeit ist wichtiger als Dringlichkeit! Korrektur ist später auch noch möglich und meistens auch sinnvoller. Aufschub bedeutet: Wir bleiben dran und werden zu einem passenden, von uns gewählten Zeitpunkt auf das Thema zurückkommen. Eine weitere Möglichkeit Eskalationen zu verhindern, ist das Modell der drei Körbe. Eine Priorisierung der Themen in drei Stufen oder eben in den drei Körben ist ein erfolgreich erprobtes Mittel, den Alltag entspannter anzugehen. Wir konzentrieren uns auf den roten und kleinsten Korb, in dem eins bis zwei Verhaltensweisen stecken, an denen wir unmittelbar arbeiten. Alle anderen «Themen» befinden sich im grünen Akzeptanzkorb (z.B. Eigenschaften der Person, die zwar als störend und unangenehm erlebt werden, aber im Moment nicht bearbeitet werden) – oder im gelben Korb (Kompromisskorb). Hier stehen Verhaltensweisen, die im Moment nicht so dringlich sind.

Unterstützung und Netzwerk:
die vierte Form der Verankerung

Ich bin da, aber ich bin nicht alleine! Die Neue Autorität fördert die Veröffentlichung von Problemen – natürlich wird der Datenschutz gewährleistet. Im institutionellen Rahmen muss also sorgfältig gewählt werden, welche Personen zur Unterstützung beigezogen werden können. Dadurch wird das WIR-Gefühl gestärkt und wir stehen als Repräsentant eines Netzwerkes nie alleine da. Das Netzwerk kann innerhalb und ausserhalb der Institution aufge­baut werden (Team, alle Mitarbeiter, Eltern, Verwandte…).

Weitere spannende Themen, auf die ich hier nicht weiter eingehe, sind:

  • Wiedergutmachung statt Strafe
  • Sit-In statt Time-Out
  • Gesten der Beziehung und Versöhnung
  • Eine Ankündigung als «Richtungswechsel»

So zeigt sich die Neue Autorität nicht nur in Konfliktbereichen, sondern sie erweist sich auch als ein fester, zuverlässiger und fürsorglicher Beziehungsrahmen. Diese stabilisierende Funktion ordnen wir dem Konzept der elterlichen Ankerfunktion zu.

Paul Liniger
Ausbildner

Paul Liniger

 

Quellenverzeichnis

  • Arist von Schlippe, Vorwort in Haim Omer, 2023
    (10., überarbeitete Auflage), Autorität durch Beziehung, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
  • 2. Mose 3.13b-14, Die Bibel, Elberfelderübersetzung
  • Jesper Juul, 2020, https://www.fritzundfraenzi.ch/erziehung/
    jesper-juul-erziehung-braucht-beziehung/
  • Haim Omer, 2023 (10., überarbeitete Auflage), Seite 110
  • Haim Omer & Philip Streit, 2016, Neue Autorität:
    Das Geheimnis starker Eltern, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG
  • Haim Omer, 2023 (10., überarbeitete Auflage), Seite 24
  • Haim Omer & Philip Streit, 2016, Seite 25
  • Bruno Körner & Martin Lemme, 2019, Neue Autorität
    in Haltung und Handlung, Carl-Auer Verlag GmbH,
    Heidelberg, Seite 232
  • Haim Omer, 2023 (10., überarbeitete Auflage), Seite 26
  • Bruno Körner et al., 2019, Neue Autorität – Das Handbuch,
    Vandenhoeck & Rupprecht GmbH, Göttingen
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